Raúl Castro: Das Ende einer Ära

Am 19. April wird in Kuba ein neuer Staatschef ernannt. Nach 59 Jahren geht die Ära Castro zumindest formal zu Ende. Knut Henkel zieht Bilanz über die zwölfjährige Amtszeit Rául Castros.

Raúl Castro auf einem Banner neben der cubanischen Flagge
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Kuba ohne Castros – für 80 Prozent der Kubaner/innen zum ersten Mal - dennoch ein eher symbolischer Wandel.

Unter der Regie von Raúl Castro hat sich Kuba merklich verändert. Er hat den Weg für das Internet, die Reisefreiheit und den Zugang der Kubaner/innen zu den staatlichen Hotels geebnet. Doch der große Wurf, die Reformierung des ökonomischen Modells, den viele von ihm erhofft haben, ist er schuldig geblieben.

Eine riesige Fotomontage der beiden Brüder Castro - Fidel und Raúl - steht am Abzweiger nach Birán. Den Namen des Ortes kennt jedes Kind in Kuba, denn dort wuchsen die beiden Männer auf, die die jüngere Geschichte Kubas geprägt haben. Während der ältere der beiden, Kubas máximo líder im November 2016 verstarb, hat der jüngere seit Juli 2006 die Geschicke des Landes gelenkt. Nun gibt er das Amt des Staatschefs auf und macht einem Jüngeren Platz: Miguel Díaz-Canel.

Eine Zäsur in Kubas fast 60-jähriger Revolutionsgeschichte. Auch wenn der fast 87-jährige Raúl Castro noch bis 2022 an der Spitze der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) verweilen könnte, ist damit der Generationenwechsel in Kuba eingeleitet, so Estebán Morales. Der 75-jährige Ökonom und Politikwissenschaftler ist nicht nur Spezialist für das Verhältnis zu dem Koloss im Norden, den USA, sondern auch ein Mahner innerhalb der PCC. Die um sich greifende Korruption hat er 2010 gegeißelt, wurde aus der PCC ausgeschlossen, nach einem Brief an Raúl Castro wiederaufgenommen und analysiert seitdem kritisch den schleppenden Reformprozess auf der Insel. Dieser ist eng verbunden mit dem Namen Raúl Castro, der die Insel in den letzten knapp zwölf Jahren deutlich stärker verändert hat, als viele es für möglich gehalten hätten, jedoch mit seiner Reformagenda längst nicht so weit gekommen ist wie erhofft.

Reformagenda: „Ohne Eile, aber ohne Pause“

Als im Juli 2006 Fidel Castro, das Gesicht des charismatischen Sozialismus Kubas, aufgrund einer schweren Darmerkrankung den Posten des Staatschefs räumen musste, war es sein jüngerer Bruder, der den Vorsitz von Partei und Regierung übernahm – allerdings als Zugpferd eines heterogenen Kabinetts, welches vor allem die politische Stabilität erhalten sollte. „Fidel hat die Mannschaft von Raúl zusammengestellt und die Weichen damals gestellt. Nicht nur auf höchster Ebene, sondern auch darunter. Fast alle jüngeren Parteisekretäre wurden noch unter seiner Führung eingesetzt und sorgen heute dafür, dass es einen politischen Nachwuchs gibt, der nun langsam an die Spitze kommt“, erklärt Morales. Darunter auch der designierte Präsident, Miguel Díaz-Canel, der sich in den Provinzen Holguín und Villa Clara einen Ruf als dialogbereiter, offener Organisator erarbeitete und ab dem 19. April der neuen Regierung vorstehen soll.

Raúl Castro wird die Insel allerdings nicht - wie von ihm erhofft - in geordneten Verhältnissen übergeben. Der Reformprozess, den Raúl Castro mit den landesweit diskutierten und 2011 vom Parteitag der PCC verabschiedeten „Lineamientos“, einer vor allem ökonomisch ausgerichteten Reformagenda, angeschoben hat, ist in den letzten Jahren kaum mehr vorangekommen. „Steckengeblieben“ wie der 2016 von der Universität Havanna entlassene Sozialwissenschaftler Omar Everleny Pérez Villanueva, kritisiert. Eine Einschätzung, die Morales nicht unbedingt teilt. Er macht die kubanische Idiosynkrasie für die schleppende Implementierung der Reformagenda verantwortlich. „Wir sind einfach unglaublich langsam“, sagt er und verteidigt damit indirekt den Slogan, den Raúl Castro auf dem Parteitag im April 2016 ausgab: „Ohne Eile, aber ohne Pause“ sollten die Reformen implementiert werden.

Doch die Nerven aufreibende Langsamkeit, mit der an der Weiterentwicklung des ökonomischen Modells auf der Insel gearbeitet wird, stellt auch Morales’ Geduld auf die Probe: „Wir brauchen mehr wirtschaftliche Dynamik, dabei spielt der Privatsektor eine entscheidende Rolle und wir müssen endlich ein eigenes Wirtschaftsmodell entwickeln - uns von der zentralistischen Staatswirtschaft sowjetischen Typs abnabeln. Von anderen wie Vietnam lernen, aber auch von positiven Beispielen auf der Insel“, argumentiert Morales. Dass beispielsweise eine Baufirma, die in Santiago de Cuba angemeldet ist, in Havanna keine Aufträge realisieren darf, ist für ihn ein klassisches Eigentor: „Ein Beispiel für die internen Blockaden eines zentralisierten Systems“.

Derartige Widersprüche sind in Kuba allerdings omnipräsent, so kritisieren Wirtschaftswissenschaftler wie der bereits erwähnte Omar Everleny Pérez sowie Pavel Vidal, kubanischer Finanzexperte an der Universität Javeriana im kolumbianischen Cali. Die beiden Ökonomen haben den Prozess der Legalisierung der Arbeit auf eigene Rechnung, wie die selbständige Tätigkeit in derzeit 198 Berufen in Kuba heißt, zwischen 2010 und 2013 im Detail analysiert. Sie wiesen auf Defizite wie das Fehlen von Großmärkten oder die Legalisierung der Selbständigkeit in akademischen Berufen hin. Gleichwohl hat sich bis heute wenig geändert. Doch für die Experten, darunter auch Morales, sind weitere Schritte überfällig: „Es gibt zu wenig Jobs für Höherqualifizierte, die Abwanderung der Besserqualifizierten ist ein immenses Problem und von ökonomischen wie juristischen Beratungsagenturen könnten schließlich auch staatliche Unternehmen profitieren“.

Stagnation trotz zahlreicher Erfolge

Solche Argumente werden in den politischen Gremien durchaus diskutiert, wie die Eröffnung des ersten Großmarkts für gastronomische Genossenschaften in Havannas Altstadt vor ein paar Monaten zeigt. „Doch die Angst mit weiteren Liberalisierungen im Bereich des Privatsektors eine neue Mittelklasse in Kuba zu etablieren, ist beinahe greifbar“, gibt Morales zu. Ein zentraler Grund, weshalb weitere Reformschritte im Privat- und im Genossenschaftssektor, zwei ökonomische Eckpfeiler des neuen ökonomischen Modells, zu dem sich die PCC in den Lineamientos bekannt hat, bisher nicht zustande gekommen sind.

Im Kabinett von Raúl Castro werden Entscheidungen im Konsens getroffen, so die Analyse des Berliner Politikwissenschaftlers und Kubaexperten Bert Hoffmann. In der Praxis sorgt das für teilweise widersprüchliche Maßnahmen, wie die seit August 2017 geltende Stornierung der Neuausgabe von Lizenzen für die Arbeit auf eigene Rechnung. Fehlentwicklungen sollen korrigiert werden heißt es dazu aus den kubanischen Ministerien, doch die Maßnahme hat für Unsicherheit unter den rund 550.000 Selbständigen auf der Insel gesorgt, kritisiert Pavel Vidal.

Der kubanische Finanzexperte weist aber auch darauf hin, dass es unter der Regie von Raúl Castro gelang, zu spektakulären Abkommen mit den Kreditgebern des Pariser Clubs, mit Russland, Japan und Mexiko zu kommen, die die Schuldenlast der Insel um bis zu 90 Prozent reduzierten. Dadurch habe Kuba seinen Paria-Status auf dem internationalen Finanzmarkt verloren, lobt Vidal. Ein kaum zu überschätzender Erfolg der kohärenten Finanzpolitik Kubas unter der Regie von Raúl Castro. Dies könnte den Weg zu Krediten ebnen, um die seit langem diskutierte Währungsreform in Kuba endlich durchzuführen, hofft Morales. Für diese braucht Kuba Geld, um genug Waren auf den Märkten anbieten zu können, um so eine zu erwartende Inflation abfedern zu können und um das Vertrauen in den nationalen Peso zu stärken. Daran fehlt es und das ist der zentrale Grund für den zögerlichen Kurs der Regierung.

Alles andere als zögerlich ist sie jedoch zu Beginn der Regierungsperiode vorgegangen, so Omar Everleny Pérez. „In den ersten vier, fünf Jahren wurde sehr pragmatisch agiert, die Leute waren sehr zufrieden mit ihrem Präsidenten. Ich denke dabei an Maßnahmen wie die Gleichstellung von Kubaner und Touristen beim Hotelbesuch, die Freigabe des Verkaufs von Computern wie Smartphones, die neuerliche Legalisierung der Arbeit auf eigene Rechnung sowie die Legalisierung des Hausverkaufs und die Erleichterungen bei der Ausreise. Das waren wichtige Schritte, die Kuba stark verändert haben“, so der Wissenschaftler, der seit seiner Entlassung von der Universität als freier Analyst in Havanna arbeitet.

Wirtschaftliche Dynamik durch Digitalisierung und Dialog

Offiziellen Zahlen zufolge haben seit der Umstellung der Ausreisemodalitäten im Frühjahr 2013 mehr als 800.000 Kubaner die Insel verlassen, um zu reisen, für ein paar Monate im Ausland zu arbeiten oder als Kleinimporteure Waren auf die Insel zu schaffen. Das hat zur wirtschaftlichen Dynamik im Privatsektor beigetragen, sodass beispielsweise das Angebot an Kleidung auf den privaten Märkten inzwischen vielfältiger ist als in den staatlichen Geschäften.

Zudem hat die Maßnahme dafür gesorgt, dass die Kubaner deutlich besser informiert sind. Dazu hat allerdings auch beigetragen, dass mit der Verlegung des Glasfaserkabels von Venezuela nach Kuba im Jahr 2011 peu á peu das Internet Einzug hielt - erst in Form von Wifi-Spots auf zahlreichen öffentlichen Plätzen und anschließend auch in privaten Haushalten. Die Zahl der Nutzer steigt trotz hoher Gebühren kontinuierlich, die sich jedoch längst nicht alle leisten können. So besaßen Ende 2015 laut der staatlichen Telefongesellschaft Etecsa 3.2 Millionen Kubaner ein modernes Smartphone. Ein beachtlicher Fortschritt für die Insel mit ihrem enormen Nachholbedarf an moderner Kommunikationstechnologie, so Omar Everleny Pérez.

Als Erfolg der Dialogbereitschaft von Raúl Castro gilt auch die Verbesserung des Verhältnisses mit den USA, die mit der Eröffnung von Botschaften in den jeweiligen Ländern und dem Besuch von US-Präsident Barack Obama im März 2016 ihren Höhepunkt erlebte. Seitdem sind die Beziehungen zwar wieder merklich abgekühlt, aber es kommen nach wie vor deutlich mehr Produkte und Geldtransfers auf die Insel als vor der Annäherung. „Auf fünf bis acht Milliarden US-Dollar schätze ich allein den Wert der Geldtransfers pro Jahr“, so Estebán Morales.

Trotz der Devisen, die für Dynamik im Privatsektor sorgen, ändert sich nichts daran, dass es der Regierung quasi chronisch an Investitionskapital fehlt, um die Produktionskapazität wieder aufzubauen. Ein Dilemma, welches eng verknüpft ist mit dem schleppenden Reformtempo und der doppelten Währung. Die Lösung dieser strukturellen Probleme stehen nun ganz oben auf der Agenda des neuen Staatschefs, der am 19. April vereidigt werden soll: Miguel Díaz-Canel. Der erste Staatschef seit 1959, der nicht den Namen Castro trägt.